Erhaltungszucht bei Vorwerkhühnern

Ein Modellprojekt zur Erhaltung seltener Geflügelrassen
(Veröffentlicht in ARCHE NOVA, 4/99)


Weigend, Steffen1, Jürgen Güntherschulze2, Fritz Günther Röhrssen3, und Elmar Titze4

1Institut für Tierzucht und Tierverhalten Mariensee (FAL)
2Haustierpark Lelkendorf
3Fritz G. Röhrssen, Worpswede
4 Sonderverein der Züchter des Vorwerkhuhnes im Bund Deutscher Rassegeflügelzüchter e.V.

Vorwerkhuehner

Motivation: Während der Domestikation (Haustierwerdung) von Hühnern hat sich eine enorme Rassenvielfalt entwickelt. Obwohl zahlreiche der uns heute bekannten Rassen erst Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden sind, basiert ihre Gründung oftmals auf bereits seit Jahrhunderten in Europa beheimateten lokalen Landesschlägen, die teilweise mit importierten asiatischen Rassen gekreuzt wurden. Über viele Generationen bewirken natürliche Selektionsmechanismen genetische Veränderungen in Rassen und Populationen, die zu einer besseren Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen führen. Daher können die mit wirtschaftlich genutzten Linien unverwandten lokalen Landrassen Erbanlagen tragen, die für eine zukünftige landwirtschaftliche Nutzung wertvoll sind. Außerdem stellen alte Rassen für Regionen und Landschaftsgebiete ein wichtiges Kulturgut dar, die auf die Arbeit von Tierzüchtern vergangener Generationen zurückgehen. Obwohl sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die spezielle Verwendbarkeit alter Rassen für eine wirtschaftliche Nutzung nicht direkt abschätzen lässt, ist die Erhaltung genetischer Variation Voraussetzung für eine Selektion zur Anpassung an veränderte Bedingungen und Anforderungen. Ausgehend davon ergeben sich zwei Handlungsebenen in bezug auf genetische Ressourcen, die die lokalen Hühnerrassen darstellen. 1.) Die wissenschaftliche Erforschung genetischer Unterschiede und besonderer Eigenschaften lokaler Hühnerrassen, und 2.) eine zeitweise oder permanente Erhaltung wertvoller Ressourcenpopulationen in gezielten Zuchtprogrammen (Weigend u.a., 1995). Betrachtet man die gegenwärtige Situation wird deutlich, dass einige der alten Geflügelrassen nur noch in sehr kleinen Beständen vorhanden sind, und eine koordinierte Erhaltungszuchtarbeit nicht existiert (Weigend und Nix, 1997). Um jedoch Rassen in ihren Eigenschaften und wirtschaftlichen Einsatzmöglichkeiten charakterisieren zu können, und ihren Bestand über einen längeren Zeitraum zu erhalten, bedarf es strukturierter Zuchtbestände, die nicht häufigen Einkreuzungen durch andere Rassen, scharfen Selektionsmaßnahmen allein nach Ausstellungsmerkmalen und einem unkontrollierbarem Zuchttieraustausch unterliegen. Daraus ergibt sich die Motivation zum Aufbau geeigneter Zuchtpopulationen alter Geflügelrassen in praxi.

Zuchtziel: Die Zielstellung in der Erhaltungszucht ist klar von Zielen in der Ausstellungszucht abgegrenzt. Im Vordergrund steht die Erhaltung der vorhandenen genetischen Variation (und nicht die Selektion auf einen besonderen Ausstellungstyp) durch Minimierung der Inzucht und der Reduzierung des Risikos von Allelverlusten in der Population. Bei der Zusammenstellung der Zuchtgruppen wird durch eine gezielte Zuchttierauswahl vor allem die Verwandtschaft beachtet werden. Darüber hinaus sind natürlich die grundsätzlichen Rassemerkmale im Zuchtziel zu berücksichtigen. Kernstück ist die Minimierung des Inzuchtzuwachses je Generation DF. DF ist direkt abhängig von der effektiven Populationsgröße Ne. (Ne ist erklärt von VOGT im Heft 3/99 der Arche Nova). In Populationen mit zufälliger Paarung von weiblichen und männlichen Tieren ist DF=1/(8Nd)+1/(8Ns), wobei Nd und Ns die Anzahl der männlichen und weiblichen Zuchttiere darstellen. Die Zuwachsrate an Inzucht DF wird demgegenüber verringert, wenn für die nächste Generation von jedem Vater ein Sohn und von jeder Mutter eine Tochter für die nächste Zuchtsaison reproduziert wird. Bei einer solchen Selektion innerhalb von Familien ist DF=3/(32 Ns)+1/(32 Nd) (Gowe u.a., 1959). Wenn beispielsweise der Inzuchtzuwachs von 1% je Generation angenommen werden soll, so wird dies bei einer Selektion innerhalb von 11 Familien mit einer Familiengröße 1,4 (1Hahn und 4 Hennen) erreicht. Betont werden muß jedoch, dass diese Berechnung nur zutrifft bei einer vollständigen Remontierung aller Eltern in allen Familien. Um Inzuchtdepressionen in den einzelnen Familien zu minimieren, werden Verpaarungen engverwandter Tiere durch einen systematischen Zuchttieraustausch vermieden. Die Vorgabe, dass ein Hahn durch einen seiner Söhne und eine Henne durch eine ihrer Töchter ersetzt werden soll, lässt durch Nachzucht einer größeren Anzahl Tiere als für die Weiterzucht benötigt Möglichkeiten für eine Selektion nach wünschenswerten Eigenschaften offen. Das erlaubt, die in Zuchtgemeinschaften zusammengeführten Bestände in wesentlichen Punkten auf rassetypische Merkmale zu selektieren. Die Einkreuzung fremder Hühnerrassen in solche Erhaltungszuchtherden ist zu vermeiden, um die Einführung fremder Erbanteile und damit einer potentiell möglichen Verdrängung rassetypischer Erbanlagen entgegenzuwirken (vgl. FAO Secondary Guidelines, 1998)

Die Grundstruktur einer Erhaltungszucht basiert auf der Verknüpfung mehrerer Herden einer Rasse zu einem Zuchtring (Abb. 1).

Abb. 1: Schema einer Rotation der Hahnennachkommen bei der Erhaltungszucht
Hahn aus ZE1
Pfeil
ZE 1* Hahn aus ZE n
Pfeil
Hahn aus ZE2
Pfeil
ZE 2 ZE n Pfeil     
ZE 3
Hahn aus ZE3
Pfeil
Züchterring
ZE 4 ZE 8
Pfeil
Hahn aus ZE4
ZE 5 ZE 7 Pfeil
Hahn aus ZE7
Pfeil
Hahn aus ZE5
ZE 6 Pfeil
Hahn aus ZE6

*) ZE - Zuchteinheit, bestehend aus 1 Hahn und 4 Hennen

Eine einzelne Zuchteinheit (ZE) besteht aus einem Zuchtstamm mit einem Zuchthahn und vier Zuchthennen. Der Zuchttieraustausch erfolgt, indem die aus einer ZE hervorgehenden Hahnennachkommen aus dem jeweils letzten Schlupf in die nächste Zuchteinheit weitergegeben werden, so dass in jeder Generation die Hennennachkommen einer ZE mit den Hahnennachkommen von der vorhergehenden ZE verpaart werden. Auf diese Weise wird eine Rotation in dem Zuchtring erreicht und eine Verpaarung eng verwandter Tiere verhindert. Aus der Nachkommenschaft wird von jedem Hahn ein Sohn und von jeder Henne eine Tochter für die neue Zuchtsaison ausgewählt. Bei Ausfall einer ZE (z.B. bei Erkrankung des Bestandes) kann die auftretende Lücke direkt von den vorhergehenden und dem nachfolgenden Züchter geschlossen werden.

Organisation des Zuchtringes: Das Grundelement des Erhaltungszuchtringes ist die ZE. Bei der Gründung des Zuchtringes werden diese ZE erstellt, indem Hähne und Hennen einer Rasse unterschiedlicher Herkunft in Zuchtstämme zusammengestellt werden. Die Anzahl der ZE sollte bei einer Zuchtstammgröße von 1,4 größer als 10 sein, um den Inzuchtzuwachs je Generation auf maximal 1% zu begrenzen. Während der Reproduktion müssen die Zuchtstämme getrennt gehalten werden, um den genauen Abstammungsnachweis zu garantieren. In der Zuchtsaison werden aus diesen Verpaarungen eine genügend große Anzahl Bruteier gesammelt, um je Stamm mindestens 3 Hahnennachkommen und 12 Hennennachkommen (Hennennachkommen je Mutter) zu erhalten. Im Alter zwischen 12 und 16 Wochen werden die potentiellen Zuchttiere für die nächste Saison bewertet und die neuen Zuchtstämme zusammengestellt. Die Zuchttierrotation wird realisiert, indem Bruteier weitergegeben werden (Abb.2). Der Züchter erhält aus der vorhergehenden ZE etwa 10-15 Bruteier, die über einen Zeitraum von max. 3 Wochen gesammelt wurden. Die daraus geschlüpften Hähne bilden die Vatergrundlage für die neue Zuchtsaison, während die Muttergrundlage aus den Hennen hervorgeht, die aus der Verpaarung im eigenen Zuchtstamm resultieren. In gleicher Weise schickt dieser Züchter Bruteier an den Züchter der nächsten Zuchteinheit, der seinerseits aus diesen Nachkommen die Vatergrundlage für seine neue Zuchtsaison erhält.

Abb. 2: Reproduktionsschema für die Erhaltungszucht
am Beispiel einer Zuchteinheit, der ZE 2
blind   blind   blind   blind
ZE 1 ZE 2 ZE 3 ... ZE n
Reproduktion
1 Hahn verpaart mit 4 Hennen je ZE
Winkel Winkel Winkel Winkel
Bruteier
aus
ZE n
Bruteier
aus
ZE 1
Bruteier
aus
ZE 1
Bruteier
aus
ZE 2
Bruteier
aus
ZE 2
Bruteier
aus
ZE 3
Bruteier
aus
ZE 3
Brut
Linie Linie   Linie Linie   Linie Linie    
Männliche
Nachkommen
aus
ZE n Bruteiern
Weibliche
Nachkommen
aus
ZE 1 Bruteiern
Männliche
Nachkommen
aus
ZE 1 Bruteiern
Weibliche
Nachkommen
aus
ZE 2 Bruteiern
Männliche
Nachkommen
aus
ZE 2 Bruteiern
Weibliche
Nachkommen
aus
ZE 3 Bruteiern
 
Aufzucht
3 Hähne und 12 Hennen je ZE
Bewertung der Nchzuchttiere und Erstellung der neuen Zuchtpaare
(Jahrestreffen mit Tierschau)
Linie Linie Linie  
Neue Zuchtsaison
ZE 1   ZE 2   ZE 3   ... ZE n
Reproduktion
1 Hahn verpaart mit 4 Hennen je ZE

Es ist leicht zu erkennen, dass sich der Inzuchtzuwachs pro Zeiteinheit auf den Zeitraum zwischen zwei Generationen bezieht. Je länger dieses Generationsintervall ist, umso geringer ist der durchschnittliche Inzuchtzuwachs pro Jahr, d.h. es sollte aus Sicht der Minimierung des jährlichen Inzuchtzuwachses ein möglichst langes Generationsintervall angestrebt werden. Dennoch haben wir uns in der Anfangsphase dieses Projektes für ein einjähriges Generationsintervall entschieden, um (1) die Organisation der Rotationszucht zu etablieren; und um (2) rassetypische Merkmale, Merkmale der Fruchtbarkeit und der Leistung durch eine Selektion innerhalb von Familien in überschaubaren Zeiträumen zumindest teilweise beeinflussen zu können.

Erste praktische Umsetzung. Die angeführten Überlegungen erscheinen wenig hilfreich, wenn sie sich nicht in die Praxis umsetzen lassen. Die Erkennung von Problemen bei der Etablierung von Erhaltungszuchten im Bereich privater Züchter und die Erarbeitung geeigneter Lösungen, die auch auf andere Hühnerrassen übertragbar sind, ist das Ziel des Modellprojektes. Dafür wurde die Rasse Vorwerkhühner ausgewählt, eine alte Hühnerrasse, die ihren Ursprung in Norddeutschland hat (Abb.3). Der Name geht auf ihren Begründer Oskar Vorwerk zurück, der sie aus Lakenfeldern, gelben Orpington und Ramelslohern herauszüchtete. Die Auswahl der Rasse erscheint jedoch in dieser Phase eher als nachgeordnet. Wesentliche Bedeutung hat, dass sich interessierte Züchter für eine Rasse engagieren. Dies ist bei den seit fast 100 Jahren in Deutschland existierenden Vorwerkhühnern gegeben. Die Einsatzbereitschaft und der Idealismus begeisterter Züchter ist eine grundlegende Voraussetzung für die Etablierung von Erhaltungszuchtherden im privaten Sektor.

Um den Worten Taten folgen zu lassen, trafen sich am 9. Januar 1999 neun Züchter, vor allem aus dem norddeutschen Raum, im Haustierschutzpark Warder. Auf diesen Treffen wurde das Zuchtbuch für die Erhaltungszucht des Vorwerkhuhnes gegründet. Dabei wurden folgende Festlegungen getroffen:

  1. Jeder Züchter hält (zunächst) einen Stamm Vorwerkhühner, der aus einem Hahn und vier Hennen besteht. Dabei wird versucht, möglichst Tiere von vielen verschiedenen Züchtern einzubeziehen.
  2. Aus der territorialen Verteilung der Züchter wird ein Ring erstellt, der die Rotation der männlichen Nachkommen festlegt.
  3. Mit der Zuchtbuchführung wird Herr Röhrssen vom Hof ÖKO NOAH betraut. Dort werden alle Tiere der Ausgangpopulation registriert.
  4. Herr Dr. Titze, ein Züchter aus Mecklenburg-Vorpommern, übernimmt die Funktion des Zuchtwartes. Ausgehend von seinen langjährigen Erfahrungen mit der Zucht von Vorwerkhühnern wird er maßgeblich an der Exterieurbeurteilung der Tiere mitwirken.
  5. Der Anfangsbestand und alle Zuchttiere der nachfolgenden Generationen werden mit Kükenmarken gekennzeichnet.
  6. Die Impfprophylaxe beschränkt sich auf die Impfung gegen die atypische Geflügelpest.
  7. Von den Nachzuchttieren werden ab der Zuchtsaison 1999/2000 folgende Informationen festgehalten:

Am 28. August 1999 kamen die Züchter zu einem zweiten Treffen zusammen, um die ersten Zuchtstämme einer Tierbewertung zu unterziehen und die potentiellen Zuchtstämme für die neue Zuchtsaison zusammenzustellen. Die Anzahl Züchter ist inzwischen auf 15 angewachsen, und es wurden insgesamt 110 Zuchttiere in die Erhaltungszucht aufgenommen. Damit ist die Grundlage für die erste Zuchtsaison 1999/2000 gelegt. Da sich der Erhaltungszuchtring noch in der Etablierungsphase befindet, d. h. der Zuchtring noch nicht geschlossen ist, besteht vonseiten des Zuchtringes ein großes Interesse, weitere Züchter für diese Erhaltungszucht zu begeistern und mehr Tiere in den Erhaltungszuchtring einzubinden. Interessenten sind jederzeit herzlich willkommen.

Ein Gedanke zum Abschluss: Neben den Vorwerkhühnern gibt es viele andere bodenständige Geflügelrassen in der Bundesrepublik Deutschland. Die GEH hat eine Rote Liste gefährdeter Haustierrassen herausgegeben, die auch in ihrem Bestand gefährdete Rassen verschiedener Hausgeflügelarten führt. Es wäre zu begrüßen, wenn sich engagierte Züchter finden würden, die zur Erhaltung anderer Rassen ähnliche Aktivitäten entfalten möchten. Nur wenn die Erfahrungen aus dem Erhaltungszuchtring der Vorwerkhühnern weitergetragen werden können und zur Erhaltung anderer Geflügelrassen, und damit der genetischen Variabilität im Geflügelbereich beitragen, hat dieses Modellprojekt seine Zielstellung tatsächlich erreicht. Speziell gibt es Bemühungen zum Aufbau weiterer Erhaltungszuchten bei den Hühnerrassen Altsteirer und Deutsche Lachshühner. Wer sich dafür oder für die Erhaltungszucht anderer Hühnerrassen interessiert, kann sich jederzeit an folgende Adresse wenden:

Literatur:

Gowe, R. S., A. Robertson and B. D. H. Latter, 1959. Environment and poultry breeding problems. 5. The design of poultry control strains. Poultry Science 38: 462 – 471

Vogt, M. (1999) Leserbrief zum Vorwort der Arche Nova 1/99. Arche Nova 2/99, S. 9

Weigend, S., E. Nix, 1997 Erhaltung alter und gefährdeter Geflügelrassen. Unser Land, 2, Feb. 1997, S. 26 – 27

Weigend, S.; E. Vef, G. Wesch, E. Meckenstock, R. Seibold, F. Ellendorff (1995): Konzeption zur Erhaltung genetischer Ressourcen bei Geflügelspezies in der Bundesrepublik Deutschland, Archiv für Geflügelkunde, 1995, 59 (6), 327-334

FAO Secondary Guidelines for the Development of National Farm Animal Genetic Resources Management Plans – Management of Small Populations at Risk. (1998)

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